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"ich sehe was, was du nicht hörst"

Rechercheprojekt über das Theatererlebnis für Blinde und Gehörlose
 

In dieser Recherche hat Martina Mittel und Wege gesucht, um bisherige Vermittlungsformate wie Übertitel, Übersetzung in Gebärdensprache und Audiodeskription für Blinde und Gehörlose bei Theateraufführungen über die nüchterne Informationsvermittlung hinaus künstlerisch weiterzuentwickelndamit Nicht-Sehende und Sehende, Nicht-Hörende und Hörende ohne Einschränkungen gemeinsam einem Theatererlebnis folgen und es genießen können. In Interviews mit Betroffenen befragte sie diese nach ihren Wünschen und Bedürfnissen rund um den Theaterbesuch. Sie sollen Aufschluss darüber geben, wie die bisherigen Hilfsangebote erlebt werden. Martinas Ziel ist es, durch diese Erkenntnisse ihr bestehendes Repertoire und künftige Neuinszenierungen durch den integrativen Einsatz neuer Ausdrucksformate zu bereichern. Ihre Verantwortung als Künstlerin sieht sie darin, zu mehr Barrierefreiheit und Gleichberechtigung beizutragen und diese neu entwickelten Ideen fortan als Selbstverständlichkeit in ihrer künstlerischen Arbeit mitzudenken. Sie erprobt, inwieweit es ausschließlich durch den Einsatz künstlerischer Mittel gelingt, dass Blinde ohne Audiodeskription und Gehörlose ohne Übertiteleinblendung inhaltlich der Szene folgen können. Daraus soll ein Konzept für neue Inszenierungsformate entstehen, die für ein mixed-abled Publikum gleichberechtigt ästhetisch erfahrbar werden. In den beiden folgenden Interviews werden die Antworten mehrerer Gesprächspartner:innen (G) zusammengefasst wiedergegeben. Die Interviews dienten als Grundlage für nachfolgende Proben. 

 

 

INTERVIEW 1 mit blindem Publikum

 

M: Wie häufig gehen Sie als Blinde:r ins Theater?

 

G: Sehr selten. Und nur, wenn eine Audiodeskription zur Verfügung gestellt wird, was allerdings nur die wenigsten Theater anbieten. (Anmerkung M: nur ca. ein Dutzend Theater in ganz Deutschland bieten Audiodeskription an.)

 

M: Hat Sie die Audiodeskription zufriedengestellt?

 

G: Manchmal ja, manchmal nein. Es kommt sehr auf die Art der Beschreibung an. Ist die Wortwahl oder die Stimme zu nüchtern und kommentatorhaft, kann ich mich nicht so leicht emotional von einer Szene mitreißen lassen. Dann entsteht bei mir eine Distanz zum Geschehen. Ist die Wortwahl allerdings bildhaft und die Stimme freundlich, weich und nimmt sich zurück, dann ist die Audiodeskription nicht so ablenkend von der Stimmung auf der Bühne und ich kann mich besser in die Szenen einfühlen

 

M: Was würden Sie davon halten, wenn die Audiodeskription künstlerisch in die Inszenierung eingeflochten wird? 

 

G: Wenn man also keinen Kopfhörer mehr bräuchte, weil die Schauspieler:innen alles Beschreibende in ihre Dialoge einbauen würden? Das wäre großartig. Dann würde auch das Hin- und Hergeswitche zwischen Kopfhörerlautstärke und der Lautstärke auf der Bühne wegfallen, was zumindest für mich bedeutet, ich könnte mich besser auf's Bühnengeschehen fokussieren. 

 

M: Welches Zusatzangebot würde Sie noch zu einem Theaterbesuch animieren?

 

G: Eine geführte Touch-Tour vor der Vorstellung würde ich gern einmal mitmachen. Die Kulissen, Requisiten und Kostüme anzufassen und mit den Schauspielern zusammen den Bühnenraum zu erkunden, würde mir sicher sehr dabei helfen, mir ein inneres Bild vom Stück zu machen. 

 

M: Würde Sie ein haptisch designtes Programmheft, in dem Sie den Grundriss des Bühnenbildes als Relief ertasten könnten, reizen?

 

G: Klingt interessant. Toll fände ich, wenn ich den Grundriss des gesamten Theaterraumes ertasten könnte, also nicht nur das Bühnenbild, sondern auch die Publikumsplätze, die Bühne, die Ein- und Ausgänge. Erklärende Worte in Brailleschrift würden mir helfen, mich zu orientieren, um zu wissen, wo im Raum ich mich befinde. Da meist kein taktiles Leitsystem auf dem Boden installiert ist, mit dem man mit den Füßen erspüren kann, wo z.B. die Toiletten sind oder die Garderobe, stelle ich mir alternativ ein Leitsystem im haptischen Programmheft hilfreich vor. Vielleicht sogar direkt ab Eingang des Theaters. 

 

M: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Veranstalter und mit dem Publikum gemacht?

 

G: Von den Veranstaltern würde ich es charmant finden, wenn man mich zu meinem Platz führen würde. Aber das habe ich noch nie erlebt. Was ich einmal mit dem Publikum erlebt habe war, dass es eine laute Audiodeskription gab, die also vom gesamten Publikum gehört werden konnte. Das hat das sehende Publikum aber offenbar sehr gestört. 

 

MWie wichtig ist es für die Intensität Ihrer Imagination, ob Sie auf frühere visuelle Erinnerungen zurückgreifen können?

 

G: Ohne wäre es schwer. Da ich nicht von Geburt an blind bin, kann ich mich an Farben und Materialien erinnern, was es mir leichter macht, mir etwas vorzustellen. 

 

MWenn Sie sich etwas wünschen dürften rund um einen Theaterbesuch, was wäre das?

 

G: Ich würde mir den Theaterbesuch barrierefreier wünschen. Das geht schon beim Ticketkauf im Internet los. Die Websites sind in der Regel nicht auf blinde Benutzer eingestellt. Es braucht eine bestimmte Software, die die Texte auf eine Braille-Zeile überträgt oder in Sprache übersetzt. Dann könnte ich mich ausführlich über die Stücke informieren und wann sie auf dem Spielplan stehen. Da ich auf eine Begleitperson angewiesen bin, würde ich mir noch wünschen, dass ich für diese Person ein ermäßigtes Ticket kaufen könnte. Die blinde Community ist leider in der Regel wirtschaftlich nicht so gut aufgestellt.

 

 

 

INTERVIEW 2 mit gehörlosem Publikum (per Email oder mit Gebärdendolmetscher)

 

M: Haben Sie ein Störgefühl, wenn man sie als taub bezeichnet?

 

G: Nein, habe ich nicht. Weil ich es ja bin. Ich weiß allerdings, dass viele hörende Menschen um den Begriff ein bisschen herumeiern bzw. ihn als negativ besetzt wahrnehmen, weil er ja umgangssprachlich mit nicht-hören-können verbunden wird. Deshalb denken sie, es wäre ein abwertender und diskriminierender Begriff für Gehörlose. Die Bezeichnung "gehörlos" ist mir übrigens auch recht. Wenn Hörende unsicher sind, sollten sie einfach fragen, wie Gehörlose bezeichnet werden möchten. 

 

M: Apropos Hörende. Fühlen Sie sich in die Gesellschaft integriert?

 

G: Ich komme klar. Aber natürlich sind viele Dinge für mich gar nicht machbar, was sehr schade ist, z.B. ein Small Talk mit meinen netten Nachbarn. Das schließt mich natürlich in gewisser Weise auch aus der Welt der Hörenden aus, weil da immer die Sprachbarriere bleibt. Ich würde mir wünschen, dass auch Hörende die Gebärdensprache beherrschten. 

M: Inwieweit nutzen Sie kulturelle Angebote?  

G: Ich würde gerne öfter ins Theater gehen und professionell inszenierte Stücke ansehen mit tollen Bühnenbildern und Kostümen. Aber leider bieten Theater ja nur sehr selten so etwas wie Text-Übertitel über der Bühne an oder Gebärdendolmetscher an der Bühnenseite. Ein paarmal habe ich eine Theateraufführung mit Übertiteln gesehen, aber es war schwierig, sich auf einen Rhythmus einzustellen, wann die Übertitel eingeblendet wurden. Das war meist unregelmäßig und ich wusste nicht sofort, wo ich hinsehen sollte, um auch nichts vom Bühnengeschehen zu verpassen. Manchmal waren die Übertitel nicht lang genug eingeblendet und wenn ich dann hinsah, waren sie auch schon wieder weg. Es wäre schön, wenn man von Anfang an durchschauen könnte, in welchem Rhythmus die Einblendungen kommen, das wäre entspannender. Aber so war ich oft irritiert, was nicht unanstrengend war für die Dauer der Vorstellung. Meine Konzentration ließ zum Ende hin merklich nach.

 

M: Was würden Sie davon halten, wenn die Texte künstlerisch ins Bühnenbild integriert würden z.B. in Form von Projektionen?

 

G: Das würde ich wirklich gerne sehen. Dann könnte ich meinen Blick ausschließlich auf die Bühne richten und alles verstehen. Eine tolle Vorstellung. Dann wären Hörende, Schwerhörige und Gehörlose quasi auf einem Level. Ich schätze, das erfordert eine ganz spezielle Inszenierung, aber heutzutage wird doch die Projektion im Theater häufig angewendet. Das wäre auch viel ästhetischer als die wirklich nicht gerade schön anzusehenden Textstreifen über der Bühne. 


M
: Welches Zusatzangebot würde Sie noch zu einem Theaterbesuch animieren?

 

G: Ein Programmheft mit einer Inhaltsangabe oder vielleicht sogar Textauszüge der einzelnen Szenen. Das könnte ich mir vor der Vorstellung schon mal durchlesen.

 

MWenn Sie sich etwas wünschen dürften rund um einen Theaterbesuch, was wäre das?

 

G: Wenn alle Theater pro Spielzeit wenigstens ein Stück im Repertoire hätten, das mit Kreativität inklusiv inszeniert wäre. Ich wäre gespannt, was sich die Künstler einfallen ließen, um die üblichen Hilfsmittel wie eben Übertitel oder Gebärdendolmetscher durch etwas Künstlerisches zu ersetzen. Dann würde ich bestimmt regelmäßig ins Theater gehen. 

 

 

Dieses Rechercheprojekt wurde gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR.

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Kommentare: 1
  • #1

    Brigitte Gramsch (Freitag, 03 Februar 2023 09:56)

    Liebe Martina, eine schöne Idee, Gehörlose und Blinde am Theaterleben teilhaben zu lassen. Sicher eine schwere Aufgabe die Wünsche der Betroffenen umzusetzen. Ich wünsche, dass es mit Unterstützung von Fachleuten möglich wird. Toi, toi, toi!!!

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